So sehr am Leben sein...

"... Ich wanderte ins Badezimmer und setzte mich auf die Toilette. Das Licht schaltete ich nicht ein, weil ich meinen Augen diese elektrische Schockbehandlung ersparen wollte. Dann saß ich da und dachte nach.

Was gab es eigentlich nachzudenken - . Wozu nachdenken-. Einfach Da-Sein sollte genügen – oder? Seltsam wie ein Mensch gebaut ist. Ich saß da und dachte an morgen ... Wie es wohl weitergehen würde... Ob dumme Sätze fallen würden oder ein „Man-sieht-sich“ das letzte Echo dieser Nacht sein würde.

„Warum diese Ängste, Linda?“ sagt mein Schutzengel und legte seine Flügel um mich.

„Ich wusste nicht, dass du auch auf die Toilette gehst“, sagte ich zu ihm und er antwortete völlig logisch – „Wo du hingehst, da bin auch ich zu finden...“
„Na gut, aber warum sollte ich keine Angst haben – vielleicht ist er morgen über alle Berge.“

“Na und?“ fragte mein ewiger Begleiter erstaunt und schimmerte golden wie selten.
„Ja, aber dann sterbe ich vor Sehnsucht“, sagte ich und war ein wenig empört, meinen Engel so lachen zu sehen.

„Gut – dann stirb nur vor Sehnsucht“, sagte er und hörte nicht auf zu lachen.
„Das findest du lustig?!“

„Natürlich mein Kind“, sagte er wieder etwas gefasster.
„Weil man nicht stirbt, wenn man endlich begonnen hat zu leben-.“
„Aber - .“

„Das einzige, wovor du Angst hast, ist, dass du jetzt weißt, wie sehr du am Leben sein kannst – das ist natürlich eine beängstigende Herausforderung, sich nie wieder mit weniger zufrieden zu geben ...“

Er lachte wieder so sehr, dass seine Flügel zitterten, er wurde durchsichtig und für meine Augen wieder unsichtbar. ..."

Textauszug aus „Honigmond“
von Gabriel Barylli

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